Vom Minderwert in den Selbstwert
Wir haben im vorherigen Kapitel darüber gesprochen, dass Selbstliebe beginnt, wenn das Vergleichen endet. Ich möchte hier noch etwas tiefer darauf eingehen, was die Gründe für mangelnde Selbstliebe sind. Das, was uns davon abhält, uns selbst zu lieben und in der eigenen Haut wohlzufühlen, unabhängig davon, welche Menschen bei uns sind, ist eine Identität, die im Minderwert gegründet ist!
Minderwertig bedeutet nicht voll werthaltig. Viele Menschen in der heutigen Gesellschaft haben unterbewusst einen Glaubenssatz, der besagt: Ich bin nicht gut genug und weniger wert als andere. Noch weniger Menschen erkennen, dass ihre Seele in diesem Glaubenssatz aber nicht leben kann, sodass das Gefühl von Minderwert für uns zu einer Rechtfertigung für die Überkompensation wird. Das können wir besonders gut beobachten, wenn sich Menschen streiten. Es gibt ein auslösendes Ereignis, das in der Bewertung der einen Partei negativ ausfällt, sodass negative Gefühle entstehen und wir impulsiv auf die andere Partei reagieren und sie verletzen. Das geschieht alles in Millisekunden und auch unterbewusst.
Ich weiß noch, als meine Frau und ich aufgrund der ersten Coronawelle in Quarantäne waren und als sie mit Fieber und Gliederschmerzen im Bett lag, übernahm ich alle Aufgaben des Haushalts. Ich kümmerte mich also um die Wäsche, das Kochen und das Geschirr spülen. Und weil wir in der Zeit in einem Wohnheim lebten, gab es nur eine Gemeinschaftsküche, zu der wir aufgrund der damaligen Regelungen des Virus keinen Zugang hatten. Also kochten wir in der 20 Quadratmeter Wohnung auf einem tragbaren Herd und spülten unser Geschirr in der Dusche. Ich saß an dem Tag fast eine Stunde in der Dusche und wusch per Hand das Geschirr der letzten drei oder vier Tage. Anschließend goss ich noch die Pflanzen in der Wohnung und danach setzte ich mich auf einen Stuhl, mit Rückenschmerzen und völlig erschöpft. Meine Frau bat mich in dem Moment noch zu Staubsaugen. In ihrem erschöpften Zustand klang das für mich nicht wie eine Bitte, sondern eher wie ein Befehl und ich hatte das Gefühl, als würde sie mich ausnutzen. Aufgrund meiner Bewertung reagierte ich sehr abweisend auf ihre Bitte. Ich hatte das Gefühl, als würde sie das nicht schätzen, was ich bereits im Haushalt gemacht habe. Ich geriet in den Minderwert und weil meine Seele im Minderwert nicht bleiben möchte, benutzte ich das Gefühl, welches die verletzte Seele im Minderwert verspürt, als Rechtfertigung dafür, meine Frau in ihrer Bitte abzuweisen und ihren Wunsch zu ignorieren. Das war meine sogenannte Überkompensation. Ich fühlte mich ungeliebt und nicht geschätzt, sodass meine Seele begann zu rebellieren und ich meine Frau mit Abweisung bestrafte, anstatt ihrer Bitte nachzukommen. Eine halbe Stunde später machte meine Frau sich aus dem Bett, mit 39 Grad Fieber und griff selbst zum Staubsauger!

Am selben Tag redeten wir am Abend über die Situation. Schnell wurde mir klar, dass sie mich keinesfalls ausnutzen wollte. Aber weil sie ein sehr ordnungsliebender Mensch ist und in einem kleinen Zimmer nach einer Woche sich schon sehr viel Dreck ansammelt, war es ihr wichtig, dass es wieder mal sauber ist. Ich erzählte ihr, dass mich das in dem Moment einfach getriggert hat und ich ein kleines Dankeschön gebraucht hätte. Wir begegneten einander mit Verständnis und wir vergaben einander dafür, dass wir einander verletzten.
An diesem Beispiel von meinem eigenen Leben soll deutlich werden, dass es meistens nicht darauf ankommt, wie die Situation aussieht oder was Menschen zu uns sagen, sondern wie wir die Worte oder die Situation bewerten.
Wir alle haben sogenannte Triggerpunkte. Manche von uns regen sich schnell beim Autofahren auf, wo ich mich selbst ehrlicherweise auch immer wieder erwische. Andere werden wütend, wenn keine Ordnung bewahrt wird und wieder andere werden davon getriggert, wenn der Partner sich mit einem anderen Geschlecht verabredet.
Es gibt noch viel mehr Situationen und Ereignisse, die uns aufgrund unserer Prägung und unseres Lebensstils in den Minderwert bringen. Hier darf sich jeder selbst die Frage stellen, wo wir in unserem Leben schnell in den Minderwert rutschen. Du kannst mal eine Woche achtsam durch den Alltag gehen und die Situationen aufschreiben und die Worte wiederholen, die andere Menschen zu dir sagten, die dich getriggert haben oder in dir eine Abwehrhaltung oder eine impulsive Reaktion erzeugten. Ich denke in unserem Arbeitsalltag oder in der Familie gibt es genug Momente.
Wer sich selbst dieser Sache aber bewusst ist, der kann auch Schritte der Veränderung gehen. Es ist absolut möglich, dass wir lernen Dinge neu zu bewerten und unseren Triggerpunkten ihre Macht zu nehmen, die uns in den Minderwert bringen.
Doch das benötigt Zeit Situationen und Ereignisse mit anderen Augen zu sehen und zu bewerten und ein anderes Verhalten an den Tag zu legen. Wenn wir schon seit 10, 20 oder 40 Jahren mit Glaubensüberzeugen durch den Alltag gehen, die uns selbst abwerten, dann läuft das zunächst wie ein Motor, der von ganz allein angetrieben wird.
Der eigene und von den Eltern übernommene Lebensstil benötigt Veränderung. Das bisherige System muss von einem neuen überschrieben werden, würde ein Informatiker sagen. Hierfür ist es sehr hilfreich, mit einem Therapeuten oder Coach zusammenzuarbeiten. Wenn man gut reflektiert und willensstark ist, dann geht das auch ohne professionelle Unterstützung, aber ich befürworte die Zusammenarbeit mit geistlichen Mentoren und christlichen Therapeuten sehr, denn innere Heilung ist vor allem eines, nämlich beziehungsorientiert und kein Alleingang!
Die seelischen Wunden und der in uns wohnende Schmerz, sowie auch der Minderwert und unsere Ängste, haben ihren Ursprung in Beziehungen.1 Der Mangel an seelische Nähe, Verbundenheit, Anerkennung, Wertschätzung und Ermutigung, der uns in unserer frühen Kindheit widerfahren ist, hinterlässt nun mal seine Spuren. Vor allem in der heutigen Generation, in der wir kaum noch körperliche und seelische Nähe zulassen, ohne dabei die Nähe direkt zu sexualisieren, ist die Sehnsucht nach Liebe und Wertschätzung größer denn je.
Wir kompensieren den Schmerz mit sehr vielen Dingen, sodass wir süchtig werden nach Drogen, Pornografie, Sex, Netflix, Essen, Erfolg oder Geld. Wir versuchen uns möglichst lange beschäftigt zu halten, weil wir mit den negativen Gedanken in unserem Kopf und mit der seelischen Leere nicht umgehen können.

Ich kenne zugegebenermaßen nur ganz wenige Menschen, die aus einem echten und gesunden Selbstwert heraus leben. Es sind auch nur jene Menschen gewesen, die eine tiefe Gottesbeziehung haben und den Schmerz ihrer Vergangenheit und ihrer Seele aktiv in Gottes Hände legten und sich von seiner Liebe zu ihnen neu prägen ließen. Auf diesem Weg befinde ich mich selbst seit mehreren Jahren und seitdem ich mich auf diesen Weg der inneren Heilung eingelassen habe, erlebe ich mehr Tiefe in meinen Beziehungen, wie nie zuvor.
Meine Gottesbeziehung wurde tiefer, in meiner Ehe erlebte ich mehr Verbundenheit und Intimität und die Liebe zu anderen Menschen wurde größer. Gottes Liebe vermag es uns zu verändern und uns in ein Leben zu führen, das und wirklich erquickt.2 Denn der Wert, den Gott uns aus seiner Liebe heraus zuspricht und in den er uns verwurzeln möchte, ist unabhängig von der Meinung anderer und auch unabhängig von meinem eigenen Versagen. Seine Liebe zu mir wird nie vergehen und es gibt nichts, was ich tun kann, um ihn dazu zu bringen, mich weniger zu lieben. Genau so verhält es sich auch mit seiner Liebe zu dir!3
Diese vollkommene und bedingungslose Liebe ist am Kreuz Christi sichtbar, denn Jesus spiegelt das Vaterherz Gottes vollkommen wider.4 Er ist ein leidenschaftlicher Gott, der die Herzen der Menschen kennt und der uns trotz unseres ich zentrierten Lebens ganzheitlich liebt.5
Lese dir mal die Stelle in der Bibel mit dem verlorenen Sohn durch im Hinblick auf die Liebe des Vaters und im Hinblick auf den Minderwert.6 Der Sohn kommt nämlich, nachdem er sein ganzes Erbe verprasst hatte, mit Schuld und Scham, im Minderwert zu seinem Vater. Obwohl der Sohn sein Erbe in kürzester Zeit verloren hat, für das der Vater jahrzehntelang schuftete, heißt der Vater ihn mit Freuden willkommen, umarmt ihn, küsst ihn und gibt ihm alles, was der Sohn beim Vater früher hatte. Der Vater gab dem Sohn seinen Wert zurück!
Denke ruhig auch ein wenig über den anderen Sohn nach, der beim Vater geblieben ist, denn auch er lebte im Minderwert. Er war neidisch auf seinen Bruder, anstatt sich darüber zu freuen, dass er zurückgekommen ist. Er sah in ihm einen Übervorteilten und in sich den Benachteiligten. Der Vater entgegnete ihm jedoch damit, dass alles, was ihm gehört auch seins ist. Der Sohn hatte aber der Liebe des Vaters nicht vertraut und fürchtete sich viel mehr davor ihm nicht gerecht werden zu können!
Gott möchte auch uns den Wert zurückgeben, den wir durch den Sündenfall und die Trennung von Gott verloren haben. Er möchte uns dabei helfen, uns von unserem Minderwert zu trennen und in dem Licht zu leben, wie Gott uns sieht.7
Es bedarf die aktive Mitarbeit von uns selbst. Unsere Seele wird von Gott geliebt und getragen, aber seelische Heilung und das Erleben von tiefer Liebe, ist kein Quick Fix und kein einmaliges Event, sondern ein Prozess. Deshalb darfst du dich auch in diesem Prozess ganzheitlich annehmen, geduldig und gnädig mit dir sein, denn Gott ist das auch!
Ich erlebe, dass seelische Heilung sowohl in der Zweisamkeit mit Gott als auch in der Beziehung zu anderen Menschen geschieht. Es ist wichtig, ja sogar notwendig, dass wir Menschen im Umfeld haben, wo wir authentisch sein dürfen. Denn dort, wo die Seele durch Beziehungen zerbrochen ist, kann die Seele auch durch Beziehungen wieder neu aufatmen.
Adam und Eva versteckten sich vor Gott und bedeckten ihre Nacktheit mit einem Feigenblatt, obwohl Gott sie vollkommen nackt in seine Gegenwart erschuf und sie sich einst nicht vor ihm schämten.8 Scham und Schuld sind eine Folge der Trennung von Gott, die durch alle unsere Beziehungen wirkt. So wie Gott Adam und Eva schon damals herausgefordert hat, ihr Versteck zu verlassen und in seine Gegenwart zu kommen, so fordert er uns auch heute noch heraus.
Wo bist du? Das ist nicht örtlich gemeint, sondern seelisch. Gott fragt uns, wie es uns seelisch gerade geht und wie es um unsere Herzen steht. Er möchte uns nämlich von Schuld und Scham befreien, weil uns diese Dinge lähmen, und unser Potenzial rauben, gesunde Beziehungen zu leben und generell im Alltag das Leben zu genießen. Im Minderwert fühlen wir uns schuldig, schlecht, beschämt, unwürdig, ungeliebt, benachteiligt und schwach. Im Minderwert lähmt uns die Furcht.9 Gott möchte uns ermutigen in seine Gegenwart zu kommen, die Masken fallen zu lassen und uns ihm so zu zeigen, wie wir sind. Denn nur, wenn wir uns so hingeben, wie wir sind, kann Gott uns auch so lieben, wie wir sind.
Diese Erfahrung können wir nicht nur in der direkten Beziehung zu Gott, sondern auch mit anderen Menschen machen, denn Gott liebt es seine Liebe durch andere Menschen zu offenbaren. Verletzbarkeit schafft Verbundenheit und Verbundenheit stillt das grundlegende Bedürfnis seelischer Nähe, welches wiederum dabei hilft, unser Selbstbild wiederherzustellen.
Du bist voll werthaltig! Du bist absolut liebenswert! Du bist gut genug, sagt Gott! Ich wünsche mir von Herzen für dich, dass du erfährst, wie anderen Menschen das über dein Leben aussprechen. Weil du mich nicht kennst und diese Worte nicht persönlich, sondern über einen Bildschirm, gelesen und gehört hast, kommen die Worte vielleicht nicht so an, wie sie es sollen, aber eines möchte ich dir versichern, es ist die Wahrheit! Und wenn du den Heiligen Geist in dir fragst, dann würde er dir das Gleiche sagen. Gott, der dein himmlischer Vater ist, liebt dich von ganzem Herzen, weil du es wert bist und weil er schon seit deiner Geburt Gefallen an dir gefunden hat.10
Er entschied sich für das Kreuz, weil du es ihm wert warst! Du bist ihm wichtiger als sein eigenes Leben.11Nimm diese Liebe für dich an, denn Gott schuf dich nach seinem Bild, damit die Liebe, die er in Person ist, in deinem eigenen Herzen wohnen kann.12
Biblische Verweise zum Nachschlagen und zum Meditieren:
1 1.Mose 3:10
2 Psalm 23
3 Römer 8:38-39
4 Johannes 14:9
5 Römer 5:6-8
6 Lukas 15:11-32
7 Psalm 139
8 1.Mose 3:7-10
9 4.Mose 13:25-33
10 Jeremia 31:3
11 Johannes 15:13
12 1.Johannes 4:16